Rede der Ersten Bürgermeisterin zu 70 Jahre Frieden
„Im Grund genommen bleibt dieser 8. Mai die tragischste und fragwürdigste Paradoxie der Geschichte für jeden von uns. Warum denn? Weil wir erlöst und vernichtet in einem gewesen sind.“
Liebe Mitbürger,
diese Worte von Theodor Heuss aus dem Jahr 1949 fassen zusammen, warum wir Deutschen uns mit dem Gedenken an den 8. Mai 1945 lange Zeit sehr schwer getan haben. Erstmals im Jahr 1970 trat der Bundestag aus diesem Anlass zu einer Sondersitzung zusammen, bei der der damalige Bundeskanzler Willy Brandt mit einer weltweit beachteten Rede für die Aussöhnung mit dem Osten und mit den Opfern eintrat.
Ebenso unvergessen bleiben wird die große Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker vom 8. Mai 1985, der klar belegt und ausgesprochen hat:
Der 8. Mai ist ein Tag der Befreiung!
In Marktheidenfeld fand am gleichen Tag, am 8. Mai 1985, zum ersten Mal eine Gedenkveranstaltung zum Ende des 2. Weltkrieges statt - gemeinsam gestaltet von der Stadt und der evangelischen und katholischen Pfarrei, ebenso in den Jahren 1995 und 2005.
Diese Tradition setzen wir heute fort – ich bin dankbar dafür, dass wir den Kreis der Mitgestalter inzwischen erweitern konnten. Herzlich danke ich Herrn Dekan Becker und Herrn Pfarrer Töpfer, den Lehrkräften und Schülern des Balthasar-Neumann-Gymnasiums und der Realschule Marktheidenfeld, dem Förderkreis Synagoge Urspringen, dem Historischen Verein und dem Städtepartnerschaftskomitee für ihr Mitwirken und allen Vereinen und Gruppen, die sich heute beteiligen.
- Wir gedenken heute der Befreiung von menschenverachtender Gewaltherrschaft
- Wir trauern um alle Opfer von Terror, Flucht und Vertreibung
- Wir sind zutiefst dankbar für 70 Jahre Frieden.
Diese Dankbarkeit ist nur wahrhaftig, wenn wir uns erinnern an die Unmenschlichkeit und den Völkermord, an Taten unvorstellbarer Grausamkeit, die weltweit bis heute Folgen haben – an Taten, die Deutsche begangen und verursacht haben. Wir, die wir seit zwei Generationen die Gnade erfahren, im Frieden zu leben, wollen und müssen uns erinnern – denn nur die Erinnerung bewahrt uns vor Intoleranz, Arroganz, Gleichgültigkeit und Undankbarkeit.
Wenn es heute in unserem Land zunehmend Ängste oder Bedenken gibt,
dass die Europäische Union mit nichtdemokratischen Regierungen Gespräche führt und Verträge schließt - oder wenn es innerhalb der Länder Europas Differenzen gibt, dann sollten wir uns erinnern: Wie wäre es mit Deutschland heute bestellt, hätten die Alliierten und unsere Nachbarländer nach 1945 entsprechende Maßstäbe an uns angelegt ...
Wir Deutschen haben gemeinsame Grenzen mit neun Nachbarländern – nahezu alle haben in der Vergangenheit schlimmste Erfahrungen mit uns gemacht. Dennoch gaben sie uns schon sehr bald nach 1945 die Chance zum Aufbau eines demokratischen Rechtsstaats - und vor 25 Jahren zur Wiedervereinigung unseres Landes, in dem die Menschen in der ehemaligen DDR bis dahin zwar in Frieden, aber nicht in Freiheit lebten.
Wie groß waren damals unsere Hoffnungen ... wie groß ist heute unsere Sorge, sehen wir die vielen Kriege, die es nach wie vor in der Welt gibt und die Zunahme der Gewalt durch immer mehr Organisationen, die Religion als Mittel der Macht missbrauchen. Nie waren mehr Menschen weltweit auf der Flucht.
Wie lange können wir einfach so weiterleben angesichts der fast täglichen Katastrophen im Mittelmeer? WIR WISSEN, was dort passiert. Haben WIR nicht der Generation unserer Eltern oder Großeltern Nichtwissenwollen vorgeworfen?
Fremdenfeindlichkeit, Vorurteile und Hass gegen Menschen, die in Europa und unserem Land Rettung suchen, nehmen erkennbar zu. Was können wir tun?
Sichtbare Zeichen in Marktheidenfeld, die wir in unserem direkten Wirkungskreis diesem Einfluss entgegensetzen, sind gelebte Toleranz, lebendige Städtepartnerschaften mit Montfort in Frankreich und Pobiedziska in Polen – und auch unser Bündnis „Marktheidenfeld ist bunt“.
Gemeinsam verwirklichen wir würdige Gedenkveranstaltungen, wie im vergangenen Jahr zum 100. bzw. 75. Jahrestag des Kriegsbeginns, oder vor zwei Jahren zu einem eindrucksvollen Gedenken an 75 Jahre Reichspogromnacht in der Synagoge Urspringen. Gemeinsam wehren wir uns gegen Hass und Vorurteile und gehen dafür auch auf die Straße, um sie vom „braunen Dreck“ zu reinigen.
Interesse für alle Mitmenschen, das Kennenlernen-Wollen und ein gutes Miteinander, das ist unser gemeinsames Ziel. Wie viele unterschiedliche Gruppen in unserer Stadt sich daran beteiligen, zeigt auch das Bürgerfest, das in wenigen Tagen zum dritten Mal unter dem Motto „Miteinander – Füreinander“ stattfindet.
Die Geschichte unserer Stadt macht klar, dass viele Menschen, die als Vertriebene oder Flüchtlinge zu uns gekommen und geblieben sind, für Marktheidenfeld ein Segen waren.
Die heutigen Flüchtlinge und Vertriebenen aus anderen Kulturkreisen stellen uns vor neue Aufgaben. Sie sind nun „unsere Nächsten“! Ohne großes Aufheben, mit Herz und Tatkraft helfen viele Marktheidenfelder und arbeiten mit der Stadt zusammen, um manche Probleme erst gar nicht entstehen zu lassen.
Sehr geehrte Damen und Herren,
drei kluge Weltbürger aus Frankreich, Polen und Deutschland möchte ich zitieren, die uns Geleit geben können für unser Mitwirken für Freiheit und Demokratie:
Robert Schuman,
Französischer Staatsmann und Außenminister 1948-1953, überzeugter Europäer und einer der Gründerväter der Europäischen Union:
„Wir verbinden keine Staaten, sondern Menschen.“
Wladyslaw Bartoszewskj, ( + 24. April 2015)
polnischer Historiker, Autor und Politiker, Überlebender des KZ Auschwitz und mutiger Streiter für die Demokratie in seinem Land und in Europa:
"Das schlimmste Leiden der Demokratie ist die Passivität der Bürger. Sie hat ihre Quelle entweder in der Gleichgültigkeit oder politischer Ignoranz oder auch im mangelnden Glauben an den Sinn persönlicher Beteiligung."
Richard von Weizsäcker,
Bundespräsident, am 8. Mai 1985 :
„Für uns kommt es auf ein Mahnmal des Denkens und Fühlens in unserem eigenen Innern an.“
70 Jahre Frieden –
wir danken Gott in Demut dafür.
Wir übernehmen Verantwortung für Mitmenschlichkeit, Demokratie und Freiheit.
Wir verpflichten uns zur Hilfe für die Opfer von Kriegen, Gewalt und Verfolgung.
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